Trotzdem
sollte man vor der totalitären Unterhaltungsindustrie nicht tatenlos
kapitulieren, sondern sich der drohenden Gleichschaltung mit neuen Konzepten in
den Weg stellen. Und das auch oder gerade
in der Chormusik; denn die Chormusik ist jener Teil des allgemeinen
Musiklebens, der das höchste Maß an Allgemeinheit reklamieren kann. Von den
Kirchenchören über die Gesangsvereine und Oratorienchöre bis hin zu den
Berufschören und den hoch trainierten Vokalensembles reicht die Skala
chorischer Artikulationsformen, die sich zwar qualitativ unterscheiden mögen,
die aber in solcher Unterscheidung ein Gemeinsames zum Vorschein bringen:
Singen als Möglichkeit eines Ausdrucks, der über das bloße Sprechen auf
rätselhafte Weise hinaus reicht. Und diese Vielgestaltigkeit chorischer
Möglichkeiten macht Kultur aus.
Nach
der Utopie des Chorgesangs zu fragen, schließt die Frage ein, wie Chormusik
weiter zu entwickeln wäre, nachdem, zumal in den 60er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts, die technologischen Möglichkeiten des Instruments Chor weitgehend
ausgeschöpft wurden. Der bloße Rekurs auf die Tradition wäre sicherlich der
phantasieloseste Weg. Vielmehr bestünde ein entschiedener Schritt in die
Zukunft darin, die Innovationen von damals in ein Neues zu transformieren. Eine
der wichtigsten Innovationen war sicher die Differenzierung, das Konzept, Chor
nicht mehr als Masse zu behandeln, sondern kammermusikalisch durchzubilden.
Dass jede Stimme individuell artikuliert wurde, korrespondierte damals mit
einem gesellschaftlichen Bewusstsein, dem der Kollektivismus vergangener
Jahrzehnte verdächtig war. Dieser Impuls sollte unbedingt in die Zukunft des
Chorgesangs hinein reflektiert werden, sollte die Vorstellung von einer
„Utopie des Chorgesangs" begleiten. Der Chorklang, ein Kollektives,
konstituierte sich dann nicht mehr durch die Unterdrückung der Subjekte,
sondern durch die befreite Leistung des einzelnen hindurch: Zeichen für eine
Gesellschaft, in der das befreite Subjekt lernt, seine Leistung im Blick auf
die Leistung anderer und damit auf das intendierte Ganze auszurichten. Daraus
könnte in der Tat so etwas wie eine Utopie entstehen.
Clytus
Gottwald
„Utopie Chorklang“, ein Beitrag für das
Jahresprogramm der Saison 2004/2005 des SWR Vokalensembles Stuttgart.
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Manfred Schreier