Das Auge manipuliert uns
Beim
Erlernen des Dirigierhandwerks dürfte die schwierigste Aufgabenstellung sich
aus folgendem Gedanken ergeben:
Eine
Probe zielt auf die Neuentstehung oder Aktualisierung eines musikalischen Geschehens,
das zwar von der Partitur vorgegeben ist, dessen Geheimnis aber jenseits des
Lesens zu vermuten steht. Wenn das gemeinsame Arbeiten nicht bei
oberflächlichem Lesen stehen bleiben soll, könnte es helfen, den Zauber der
Musik, die magische Seite des künstlerischen
Tuns zu erahnen, wenn der Dirigent auswendig agiert; das Ensemble hat freilich
die Noten vor sich und kann die Partitur
im Arbeitsprozess mitlesen. Daß letzten Endes
auch das Ensemble auswendig agieren sollte, ist ein eigenes Thema und wird
gelegentlich in der Praxis zu staunenswerten Ergebnissen gebracht. In der
Aufgabenstellung des Chorpraktikums und seines eng getakteten Arbeitsrhythmus, läßt sich solches aber kaum verwirklichen. Ohnehin geht es
hier aber zunächst einmal um die Arbeit und Qualifizierung des Dirigenten.
Warum
das Ganze:
Zunächst
eine Anleihe bei den schauspielerischen Aktivitäten. Niemand würde sich dem
Theater ergeben, wenn die Rollen der „dramatis personae“ auf der Bühne abgelesen würden. Man stelle sich
die Situationen vor, alle SchauspielerInnen kämen mit
ihren Rollenbüchern und läsen ihre Text in der Vorstellung im Angesicht des
Publikums ab. Wenn dies in der Vorbereitung geschieht, hat das andere Gründe;
aber auch da wäre ein Regisseur gut beraten, die Kompetenz seiner Arbeit unter
Beweis zu stellen, indem er seine Sache im Kopf hat und nicht ablesen muß, was als Idee einer Vorstellung und Botschaft an die
Zuschauer transportiert werden soll. Zugegeben, das braucht entweder viel
intensive Vorbereitung oder unendlich viel Erfahrung.
Zweites
Beispiel: der Liederabend, oder einfacher der Vortragsabend Gesang. Die
Erfahrung, ohne Noten vorzutragen, führt unmittelbar zur Idee einmal ohne Noten
zu proben. Das Lesen der „schwarzen Notenpunkte“ als sängerischer
Antrieb kann körperliche Blockaden hervorrufen, bzw. umgekehrt, mag das Agieren
ohne lesend, abgelesene Kontrolle Freiheitsräume körperlicher Aktionen öffnen.
Übertragen
auf das Dirigieren
Übungen:
1. Melodie auswendig dirigieren,
mit und ohne Dirigat
2. Stimme eines 4 stg. Satzes auswendig vortragen, Singen lassen und
dirigieren, dazu eine eigene Stimme singen, natürlich ebenso auswendig.
Etc. x. mehrstimmiges Stück auswendig arbeiten.